Mehrheit der Medikamente im Schaufenster ohne verlässlichen Nachweis für ihre Wirksamkeit
Mit Vitrinenfotos von 68 zufällig ausgewählten Apotheken in der Schweiz – und mit einer aufwändigen Analyse der medizinischen Literatur – haben Ärztinnen und Ärzte der Medizinischen Klinik des Spitalzentrums Biel nachgewiesen, dass nur 418 (oder 43,1 %) von den insgesamt 970 überprüften Arzneimitteln erwiesenermassen wirksam sind. Für die anderen 556 Medikamente (oder 56,9 %) ist die Datenlage (im Fachjargon: die Evidenz) zu dünn, um verlässliche Aussagen über deren Wirksamkeit machen zu können.
Mehr erwiesenermassen wirksame Arzneimittel im Frühling
Zwischen Juli 2019 und Mai 2020 haben die Ärztinnen und Ärzte jedes Apothekenschaufenster viermal aufgenommen, um in ihrer Beobachtungsstudie die jahreszeitlichen Veränderungen im Arzneimittelangebot in den Schaufenstern berücksichtigen zu können. Tatsächlich zeigte sich, dass im Frühling mehr Arzneimittel mit erwiesener Wirksamkeit in den Schaufenstern lagen. «Das ist vor allem auf die Medikamente gegen Heuschnupfen zurückzuführen», sagt Prof. Dr. Daniel Genné, Chefarzt der Medizinischen Klinik. «Viele hochwirksame Antihistaminika sind rezeptfrei erhältlich – und dürfen deshalb beworben werden.»
Über das ganze Jahr betrachtet stiessen die Ärztinnen und Ärzte um Genné in ihren statistischen Analysen auf keinen signifikanten Unterschied zwischen den 32 Apotheken in der Deutschschweiz und den 36 Apotheken in der Romandie sowie im Tessin. Doch von den 66 Arzneimitteln, die in den winterlich gestimmten Schaufenstern in der Deutschschweiz lagen, waren nur 11 erwiesenermassen wirksam. In der Romandie und im Tessin hingegen hatte jedes zweite Medikament im Schaufenster der Wintersaison eine erwiesene Wirksamkeit. «Vielleicht hat das damit zu tun, dass es in der Deutschschweiz mehr Befürworterinnen und Befürworter der Alternativmedizin gibt», sagt Genné.
Auch seriöse Gesundheitsinformationen
Seinem Team geht es nicht darum, die Arbeit der Apothekerinnen und Apotheker schlechtzureden. Denn erstens sind diese in ihrer Wahl beschränkt: Weil Werbung für rezeptpflichtige Arzneimittel verboten ist, dürfen die Apotheken zum Beispiel keine Antibiotika in ihre Schaufenster stellen. Und zweitens hat das Team um Genné beobachtet, dass in den Vitrinen nicht nur Medikamente oder kosmetische Produkte aufliegen, sondern auch seriöse Gesundheitsinformationen und stichhaltige Empfehlungen (etwa für Impfungen gegen die Grippe oder die von Zecken übertragene Hirnhautentzündung). «Das sind sehr wertvolle Beiträge an die medizinische Grundversorgung», sagt Genné.
Ein Label für die Verlässlichkeit der medizinischen Evidenz
Doch weil sich Patientinnen und Patienten oft nicht bewusst sind, dass rezeptfreie Arznei-mittel mit anderen Medikamenten wechselwirken können, stört sich Genné daran, dass in den Schaufenstern so viele Medikamente ohne erwiesene Wirksamkeit liegen – und damit der Öffentlichkeit indirekt empfohlen werden. «So wie Elektrogeräte nach ihrer Energie-effizienz von A bis F eingestuft werden, um den Kauf von weniger verschwenderischen Geräten zu fördern, liessen sich auch Medikamente einstufen», schreiben die Forschenden in ihrem soeben erschienenen Fachbeitrag im British Medical Journal Open. «Ein Label könnte etwa farbig angeben, wie verlässlich die medizinische Evidenz für den im Arzneimittel enthaltenen Wirkstoff ist», sagt Genné.
Originalpublikation
Känzig T, Potterat M, Corpataux T, Ackermann S, Chaix E, Gibilisco A, Portmann A, Roberts J, Schaller A, Wenger N, Wolffers O, Béguelin C, and Genné D. Does the advertisement in Swiss pharmacy windows rest on evidence-based medicine? An observational study. BMJ Open Sep 2023, 13 (9) e069186; DOI: 10.1136/bmjopen-2022-069186.